„Hast Du gehört, die Mutter vom Leon ist gestern Abend im Krankenhaus verstorben“, schnattert Henriette Kubitz als sie bei ihrem Einkauf auf eine liebe Freundin trifft. „Ja, ganz schlimm, Krebs, oder?“, entgegnet Marianne Schuster und blickt sich nach anderen Menschen um. Sie beugt sich ein wenig zu ihrer Freundin Henriette hin und sagt in einem leiseren Ton: „Echt traurig, wie erklären sie es bloß Leon? Das arme Kind!“ Sie verstaut einen Apfel in ihrem Einkaufskorb. Henriette winkt ab. „Der versteht das wahrscheinlich eh nicht. Der ist doch geistig behindert…“
So und so ähnlich laufen alltägliche Gespräche über Menschen mit geistiger Behinderung ab, denn – ganz klar: Leon versteht „solche Dinge“ nicht. Besonders bei einem Tabuthema wie Tod scheuen wir uns vor einer thematischen Auseinandersetzung. In unserer Gesellschaft werden „Tod und Trauer“ gerne aus dem öffentlichen Leben verdrängt, enttabuisierende Bewegungen wie gesellschaftliche Institutionen & Vereine (z.B. Verwaiste Eltern e.V.) zur Auseinandersetzung mit Tod und Trauer stehen im Kontrast dazu. Eine sogenannte „Death Education“ in der Schule wird von Eltern vielmals abgelehnt oder als nicht „zumutbar“ für Kinder bezeichnet.
Es wird oft vergessen, dass Kinder den Tod täglich in den Medien präsentiert bekommen. Kinder und Jugendliche haben bis zum achtzehnten Lebensjahr circa 18.000 fiktionale und ferne reale Tode miterlebt[1]. Jedoch sind die präsentierten Tode so abstrakt, dass keine emotionale Auseinandersetzung möglich oder nötig ist. Es kann auch das Bild vermittelt werden, dass der Tod reversibel ist, z.B. durch das „Sterben“ von Comichelden, die in der nächsten Sendung wieder „lebendig“ sind.
Neben den Medien sind die Gefühle und Äußerungen der Bezugspersonen wichtig für das Verstehen des Todes. Das Thema Tod ist unangenehm, daher werden gerne zur Verdrängung der eigenen Trauer Euphemismen oder Metaphern verwendet. Typischerweise würde Leon (aber auch die meisten anderen Kinder) hören: „Deine Mama ist jetzt im Himmel.“ Das sagt aus, dass die Mutter sich an einem anderen Ort befindet und dass sie so gesehen zurückkehren könnte. „Deine Mama ist jetzt ein Engel und passt auf dich auf.“ Wir mögen solche Metaphern, sie verpacken das Unschöne des Todes in eine angenehmere Form, sie sind tröstlich, aber Kinder können solche Redensarten nicht verstehen – im Gegenteil: es könnten Ängste entstehen: Die Mutter könnte wiederkommen oder „aus dem Himmel fallen“.
Eine andere Art des Umgangs ist die Geheimniskrämerei: Eltern denken, dass Erfahrungen mit dem Tod die „heile Welt“ ihrer Kinder einstürzen lassen und umgehen Fragen zum Thema Tod – der Tod eines Familienmitglieds kann dann im Kind Schockwellen auslösen, weil er unerwartet kam.
Ich erinnere mich gut daran, als 2006 der Bruder meiner Mutter verstorben ist. An diesem Tag habe ich meinen siebten Kindergeburtstag gefeiert. Gegen Abend klingelte es an der Haustür, ich lief hin und öffnete sie. Zwei Polizisten standen vor mir und begrüßten mich freundlich und fragten nach meiner Mama. Ich dachte mir nichts dabei, schließlich sind Polizisten „Freund und Helfer“. Mir kam nicht in den Sinn, dass etwas passiert sein könnte. Meine Mutter kam sofort zu mir und ich wurde von dem Gespräch ausgeschlossen. Die Haustür fiel hinter ihr zu. Manchmal frage ich mich, ob ich meine Mutter begleiten oder etwas anderes hätte tun sollen. Doch ich lenkte meine Aufmerksamkeit wieder auf meine Gäste, die wenig später nach Hause gingen.
Im Nachhinein schien es mir sehr egoistisch, den Geburtstag weitergefeiert zu haben. Auf der anderen Seite – ich war ein Kind und ich wusste nicht (und konnte nicht wissen), welche schrecklichen Neuigkeiten meine Mutter in diesen Abendstunden erfahren musste. Aber ich war auch schon immer anders gewesen als andere Kinder, viel erwachsener und reifer. Den restlichen Abend sah ich sie nicht mehr. Doch beunruhigt hat mich das nicht, ich war in Gedanken bei meiner Feier und den Geschenken.
Am nächsten Morgen saßen meine Eltern im Wohnzimmer. Ich erinnere mich noch, wie fröhlich ich war und betrat das Wohnzimmer mit einem Schwung kindlicher Energie, als mein Papa mich ausbremste und sagte „Sei doch nicht so laut!“ Ich verstand die Rüge nicht, denn in meinen Augen war ich nicht zu laut gewesen. Außerdem hatte ich bisher nie wegen meiner Lautstärke Ärger bekommen. Erst als ich zu meiner Mutter blickte, die auf dem Sofa saß, begann ich zu begreifen. Die Augen meiner Mutter waren gerötet, sie hatte offenbar viel geweint. Ich fragte nach, warum sie so traurig war, und bekam von meinem Papa die Antwort: „Der Thomas ist gestorben.“ Ich setzte mich auf seinen Schoß und hakte nach – „Warum? Wer ist das?“ Doch schon bei der Frage, wer Thomas sei, bekam ich die patzige Antwort „Dein Onkel!“, woraufhin meine Mutter aus dem Raum lief. Erst da verstand ich, was los war und weinte auch. Es brach eine Welt zusammen. Mein Onkel und ich hatten eine gute Beziehung gehabt.
Auch heute verbinde ich viele Dinge mit ihm, die Puzzleteile meiner Kindheitserinnerungen sind, zum Beispiel rumänische Musik (die 2005 in den Charts war und viel in seinem Auto lief). Mein Papa hielt mich tröstlich in seinen Armen fest. Auf der Beerdigung bin ich nicht gewesen, aus „Schutz“ wie ich später erfuhr. Über seinen Tod wurde nicht viel geredet. Es war ein Autounfall mit einem LKW, soweit ich weiß. Aber genaues Nachfragen habe ich mich nie getraut, weil ich wusste, wie schmerzvoll diese Erinnerungen für meine Mutter und Großeltern war und ich ihnen nicht noch mehr Schmerzen bereiten wollte. Ich habe damals nicht mal gewusst, dass es solche „Rituale“ wie Beerdigungen gab. Für meine weitere Entwicklung wäre es aber von Vorteil gewesen, wenn nicht alles Unangenehme so vertuscht worden wäre.
Wenn schon nicht-behinderte Kinder von der Konfrontation mit dem Tod „geschützt“ werden, kann man sich nur zu gut ausmalen, dass Menschen mit geistiger Behinderung buchstäblich in Watte gepackt werden. Man traut ihnen nicht zu, ein Verständnis für den Tod zu entwickeln. Man schließt sie von Beerdigungen aus, behilft sich mit Ausreden oder Ablenkungen.
Doch wenn ich eins in meiner Kindheit (schmerzlich) lernen musste, dann das: Man kann die Emotionen anderer Menschen spüren. Meine Mutter hat ihre wahren Gefühle (Trauer, Depressionen) oft hinter Wutausbrüchen, Ärger und Schimpfen versteckt. Oft kam ich nervös von der Schule, weil das Verhalten meiner Mutter unberechenbar war. Wenn sie wütend war, durfte ich sie bloß nicht verärgern oder nerven. Ich lernte, sobald ich mein Zuhause betrat, einzuschätzen, wie es meiner Mutter ging, um Stress, Ärger und Strafen aus dem Weg zu gehen. Ich fühle beim Betreten des Raumes immer schon, ob es der Person gut geht oder nicht. Bei Letzterem fühlt es sich an, als würde sich meine Kehle zuschnüren und die Temperatur im Raum rasant ansteigen. Doch nicht selten war es egal, wie sehr ich mich bemühte – sie fand immer einen Grund zum Schreien.
Heute begleiten mich diese Erfahrungen immer noch: übertriebener Perfektionismus und der Wunsch, es jedem recht machen zu wollen. Der Wunsch nach Kontrolle und Sicherheit ging so weit, dass er mich in eine tiefe Essstörung und Zwangsstörung, verbunden mit Depressionen und einer Angststörung rutschen ließ. Es ist immer scherzhaft gemeint, wenn ich sage „Ich würde mich schuldig fühlen, wenn in China ein Sack Reis umfällt“, aber es ist die Realität. Ich gebe meiner Mutter nicht die Schuld für ihr Verhalten. Ich denke, sie war selbst überfordert mit ihren Gefühlen und sie konnte den Tod ihres Bruders bis heute nicht in Gänze verarbeiten. Das ist aber wahrscheinlich auch darin gegründet, dass in ihrem Teil der Familie über unangenehme, schwere Dinge nicht geredet wurde. Es wurde immer alles „weggelächelt“ und so getan, als gäbe es keine Probleme.
Was ich damit sagen möchte: Kinder sind nicht dumm. Menschen mit Behinderungen sind nicht dumm. Ich bin felsenfest davon überzeugt, dass, wenn wir offen mit tabuisierten und schwierigen Themen umgehen und unsere Verletzlichkeit zeigen, viele soziale Probleme an der Entstehung hindern können. Wir sind Vorbilder: Was wir denken wird von Kindern und Menschen mit geistigen Behinderungen so aufgenommen und sie integrieren es in ihre Lebenswelt. Wie soll ein Verständnis für den Tod entwickelt werden, wenn wir ihnen gar nicht eröffnen, was der Tod ist, sondern ihnen mit Metaphern und Beschönigungen kommen? Natürlich machen diese „Verkomplizierungen“ eine emotionale Auseinandersetzung bei einem Todesfall schwieriger und kann im schlimmsten Fall zu psychischen Problemen führen. Möglicherweise ist es meiner eigenen neurodiversen Sichtweise geschuldet, aber ich verstehe grundsätzlich nicht, warum Menschen so wahrheitsscheu sind. Unschönes wird verheimlicht oder überspielt, unangenehme Wahrheiten werden totgeschwiegen…
So nach dem Motto: „Wenn ich mich damit nicht beschäftige, ist es nicht da.“ Aber es ist da und es wird nicht weggehen. Im Gegenteil: die damit verbundenen Emotionen werden immer stärker und intensiver. Es ist wie bei einem Dampfkessel: Irgendwann ist der Druck im Kessel zu hoch und er kocht über. Der Deckel wird weggesprengt und der angestaute Druck wird ruckartig entladen. Wut, Aggressionen und Streit können die Folgen sein. Folgen, die gar nicht auftreten würden, wenn der Deckel regelmäßig abgenommen worden wäre oder gar nicht erst aufgesetzt worden wäre.
Wir sollten uns selbst hinterfragen, wenn wir jemandem eine „schönere“ Erklärung für den Tod geben wollen. Wem wollen wir hier wirklich eine Erklärung geben? Dem Kind/ der behinderten Person oder uns selbst? Oft sind es die nicht-behinderten Menschen selbst, die sich gerne vor der Wahrheit drücken.
„Aber es geht doch um Schutz!“ Vor was? Dem Leben? Das Leben passiert einfach.
Je eher man das begreift, desto besser.
Wer glaubt, dass behinderte Menschen weniger Probleme haben als nicht-behinderte Menschen, der lebt hinter dem Mond. Unsere Gesellschaft trägt viel Ableismus in sich. Behinderte Menschen werden behindert und haben mit großen Barrieren auf den verschiedensten Ebenen zu kämpfen. Ihnen dann noch die Fähigkeit abzusprechen, den Tod oder andere Sachverhalte nicht verstehen zu können, ist einfach schrecklich und herabsetzend. Teilhabe heißt nicht, überall Rampen hinzubauen und mit „Behindertenfreundlichkeit“ und Quoten zu werben, sondern Teilhabe heißt auch, an dem emotionalen Leben teilhaben zu können und zu lassen. Es bedeutet, Aufklärung über den Tod (und andere Themen wie Sexualität) erfahren zu dürfen. Das ist aufwändige, aber wichtige Arbeit.
Wichtige Arbeit, der die meisten Menschen den Rücken kehren, weil die Themen für sie selbst schwierig sind.
Ja, das Leben kann ungerecht sein.
Ja, es kann wehtun.
Aber wir sind nicht allein. Doch wenn wir über diese schmerzvollen Themen nicht reden oder uns mit diesen nicht beschäftigen, werden wir allein sein. Wir lassen andere mit ihren eigenen Gedanken und Gefühlen allein. Wir bauen Schutzwälle, hinter denen wir uns dann selbst zerstören.
Der Tod tut weh.
Aber dessen Verarbeitung & die Auseinandersetzung kann uns zusammenbringen.
Bitte redet.
Offen.
Ehrlich.
Von: „Dem verlorenen Steinchen inmitten tosender Wassermassen“, Steinchen2602
Quellen und Inspiration:
Pesel, Denise (2006). Die Thematisierung von Tod und Trauer Möglichkeiten und Grenzen des Konzepts „death education“ im Kontext sachunterrichtlicher Bildung. www.widerstreit-sachunterricht.de. Ausgabe Nr. 7. URL: http://www.widerstreit-sachunterricht.de/ebeneI/superworte/unterricht/tod.pdf
(Gesprächs-) Inhalte aus dem Seminar “Den Tod leichter machen” von Susanne Lochner
[1] vgl. Franz 2002, S. 48 zit. nach Pesel, 2007, S. 12
05.01.22
machsmirleichter.projekt@gmail.com